Filmreif:
Peter Pranges Familiensaga rund um die Entwicklung der deutschen Währung

von Kerstin Bönsch

Die Frage ist geradezu psychologisch wie soziologisch: Was macht der Mensch aus seinen Talenten? Es ist die Ausgangsfrage in Peter Pranges Roman Unsere wunderbaren Jahre. Ein deutsches Märchen (2017, Fischer Verlag). Es ist ein historischer Roman, der sich zeitlich von der Einführung der D-Mark bis zur Umstellung auf den Euro erstreckt. Mit fiktiven Lebensläufen wird anhand des Geldes und dessen Verlauf die Geschichte der Bundesrepublik nacherzählt. Die ARD produzierte aus dem Stoff eine Miniserie. Derzeit ist sie auf Netflix zu sehen.

Wir schreiben das Jahr 1948 - jeder BRD-Bürger erhält 40 Mark „Kopfgeld“ - die neue Währung - als Starterset in einem neu organisierten Deutschland. Die drei Schwestern Ulla, Gundel und Ruth Wolf sind noch jung; gerade erwachsen geworden. Sie sind reiche Unternehmertöchter, denn ihre Eltern leiten eine Stahlfabrik. Die drei Frauen und deren Freunde haben unterschiedliche Vorstellungen vom Aufbruch, der bevorsteht. Die 40 Mark symbolisieren Möglichkeiten und Träume von einem künftigen Leben. Man plant es, man lässt sich darauf ein, man gibt sich dem Leben einfach hin. Doch die Handlung des Romans zeigt: Das Leben spielt sich zwischen den Plänen, Wünschen und Hoffnungen ab. Nichts verläuft so, wie es zu erwarten war. Und das gilt nicht nur für das individuelle Schicksal, sondern auch die Geschichte der BRD - im Positiven wie im Negativen. 

Unsere wunderbaren Jahre ist wohl Peter Pranges persönlichster Roman. Er spielt in Altena, wo der Autor aufwuchs. Altena ist eine Kleinstadt in Nordrhein-Westfahlen mit heute rund 16.000 Einwohnern. Peter Prange ist der Sohn des Bettenherstellers Prange. Die kleine Stadt erlangte in der Nachkriegszeit große wirtschaftliche Bedeutung - allerdings nicht wegen „Betten Prange“. Hier wurden die Rohlinge für die Deutsche Mark hergestellt. Im Roman ist es die Firma VAM der Familie Wolf. Die Idee zum Roman kam Peter Prange, als er mit dem ersten Euro bezahlte. Er spricht von einem „Erweckungsmoment“. Doch nicht nur deswegen ist der Roman sehr persönlich. Die Lebenswirklichkeiten der Figuren hat der Autor in seinem eigenen Umfeld gefunden - im Nachlass seiner Mutter. Durch hunderte Briefe arbeitete er sich, abstrahierte und formte mit Versatzstücken gedanklich sein Narrativ. „Ich musste den Roman nicht konstruieren, sondern nur komponieren“, sagt Peter Prange heute. Auch sich selbst und seine Familie baut er immer wieder in den Roman ein - vom ersten Wunsch als Kind, einmal Schriftsteller zu werden bis zum erfolgreichen Schriftsteller nach Millennium. 

Schuld, Mitschuld und Verantwortung 

Peter Pranges Roman beschreibt nicht nur das deutsche Wirtschaftswunder, er beschäftigt sich auch rückblickend mit Fragen der Schuld, Mitschuld und Verantwortung an den Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Während die Firma Wolf erfolgreich im Nachkriegsdeutschland Rohlinge für die Deutsche Währung herstellt, hatte sie während des Zweiten Weltkrieges den Stacheldraht für die Konzentrationslager geliefert. Verantwortlich dafür war Eduard Wolf, der Vater der drei Schwestern. Als das publik wird, erlischt der Glanz des Erfolges, es erlischt die Verehrung der drei Schwestern für ihren Vater, es erlischt ein Leben. Eduard Wolf erhängt sich. Doch nichts ist so wie es auf den ersten Blick scheint. Peter Prange gelingt es, das Ringen um Verantwortung und Abwägungen zu dokumentieren. Er beschreibt die hehren persönlichen Gründe des Vaters, der das individuelle Schicksal eines jüdischen Freundes schützen wollte. Doch: Wie viel darf die Rettung eines einzelnen Menschen wert sein? Wie grausam die Machtstrukturen und Konsequenzen im Zweiten Weltkrieg waren, zeigt sich an dem Beispiel, das der Autor wählt. Er erzählt es leise, doch umso lauter bleibt der Eindruck bei der Lektüre. 

Mauerbau: Idealismus entpuppt als falsche Ideologie

Eine der Hauptfiguren, Tommy Weidner, geht Ende der 1940-er Jahre nach einer enttäuschten Liebe in den Osten, um dort Karriere zu machen. Als Sohn einer alleinerziehenden Putzfrau, ohne Vater, und wenig sozialen Aufstiegschancen im Westen erhofft er sich in der DDR eine faire Chance. Der Arbeiter- und Bauernstaat verspricht Gleichheit, das Setzen auf das Potenzial eines jeden und macht Hoffnung auf ein erfülltes Leben. Tommy tritt in die Partei ein und engagiert sich politisch. Doch er wird immer mehr zum Spielball und ist hilflos den Machtstrukturen ausgesetzt. Er erkennt schließlich, dass das ideale theoretische Konstrukt der Wirklichkeit nicht stand hält. Es ist eine Farce. Tommy erlebt den Mauerbau mit und ist dabei, als sie wieder fällt. Der langsame Zusammenbruch der DDR ist eine große Enttäuschung, die man als Leser:in durch Tommy miterlebt. Es ist das Ende eines Traums von einer idealen Gesellschaftsform, die sich als falsche Ideologie entpuppt. „Tommy hatte befürchtet, dass der Umbruch, der sein Land erfasst hatte, in einem großen Knall enden könnte. Doch was stattdessen geschah, war schlimmer. Statt an einer Explosion ging der Arbeiter- und Bauernstaat an einer Implosion zugrunde, in unheimlicher, fast lautlosen Weise.“  

Liebes- und Leidensgeschichten

Peter Prange beschreibt nicht nur die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in der BRD und der DDR, sondern vor allem die persönlichen Schicksale, die damit verbunden sind. Was haben die drei Schwestern und deren Freunde in rund 60 Jahren Lebenszeit aus ihren Talenten gemacht? Was haben sie gearbeitet, wen haben sie geliebt? Der Autor schildert glückliche Ehen und weniger glückliche Ehen. Es gibt Paare, die sich früh kennen und lieben lernen und jene, denen erst spät das Liebesglück zuteil wird. Es gibt auch Figuren, denen gar keine echte Liebe widerfährt oder die nicht fähig sind, aufrichtig zu lieben. Manche sind beruflich erfolgreich, manche nur temporär, manche nie. Es gibt furchtbare Kinder, zu verabscheuende Eltern. Es gibt ein Kampf um Liebe und Aufmerksamkeit in der Liebe auf Paarebene, als Kind und in der Elternschaft. Doch eines ist allen gemein: Dauerhaft glücklich ist niemand. Die „wunderbaren Jahre“ sind temporär - ein deutsches Märchen, wie der Roman auch im Untertitel heißt. 

Zweite Staffel 2023

Peter Prange beschreibt die individuellen Schicksale vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte. Und er erzählt sie mit Tempo, abwechslungsreich und in all ihren Facetten. Neben Identifikationsfiguren bietet er auch einen starken Antagonisten: Walter Böcker - erfolgreich, aber ein Ekelpaket. Das Buch liest sich szenisch, verträgt Schnitte und lädt zum Mitfühlen ein. Kein Wunder, dass die ARD Anfang 2023 die zweite Staffel ausstrahlen wird.

 

Peter Prange stellte seinen Roman Unsere wunderbaren Jahre im Rahmen des Literatursommers Baden-Württemberg in Marbach vor.