Der Autor Arno Stadler sitzt in einer Wiese und schaut kritisch blickend in die Kamera.

Heimat
ist Welt

Ein Gespräch von Kerstin Bönsch mit Büchner-Preisträger Arnold Stadler

Das Wort Heimat klingt in einer globalisierten Welt ein wenig altmodisch und ist dennoch in aller Munde. Müssen wir Heimat neu denken?

Kerstin Bönsch: Herr Stadler, wir beginnen mit dem Versuch einer Definition: Was ist Heimat?

Arnold Stadler: Heimat ist an sich ein schöner Begriff, der leider mit einer traurigen und problema-tischen Geschichte verbunden ist. Vor allem die Heimatlosigkeit feierte Orgien, wenn wir an das 20. Jahrhundert denken. Heute wird der Begriff völlig unreflektiert genutzt - utilitaristisch, ohne wirklich etwas davon zu haben. Zum Beispiel in der Werbung. Oder in der Politik. Doch was Heimat ist, lässt sich so einfach nicht erklären. Es ist ein hochspannungsvolles und emotionsgeladenes Gefühl, das sich erst durch die Heimatlosigkeit erfahrbar machen lässt. Heimat darf kein Sirup sein, das man über die eigene Lebenswelt schüttet. Erst recht nicht, wenn man in Oberschwaben im Wohl-fühlgebiet Nummer eins lebt. Heimat verpflichtet uns auch dazu, den Blick hinaus in die Welt zu werfen - die Heimatlosigkeit anderer Menschen mitzudenken und mitzufühlen. Offen zu sein für Geflüchtete wie beispielsweise aus Syrien, ist auch Teil von Heimat. 

Wenn wir Heimat als individuellen Erlebnis- und Gefühlsraum sehen, was bedeutet Heimat dann für Sie?

Heimat ist für mich zum Beispiel der Birnenbaum dort hinten (zeigt auf einen Baum in seinem Garten), weil er sozusagen den Anfang mit dem Ende zusammenzieht. Er ist schon über 150 Jahre alt, was für einen Obstbaum sehr ungewöhnlich ist. Ich habe Erinnerungen an diesen Baum - an mich selbst sowie an Menschen, die dort Erlebnisse mit mir teilten. Heimat hat also auch ganz viel mit Beziehungen zu Menschen zu tun. Heimat ist für mich ebenso in der Spra-che zu finden - in der Unverwechselbarkeit der Muttersprache, die es kaum noch gibt. Diese Mut-tersprache konnte ich mit vielen Menschen sprechen, die es heute nicht mehr gibt. Ich meine damit nicht Deutsch, und auch nicht die Aussprache mit einer besonderen Melodik oder Intonation. Ich meine eine Sprache mit lauter ungewöhnlichen Ausdrücken, die uns eigen war und ist. Ich kann sie zwar noch sprechen, aber immer weniger Menschen um mich herum beherrschen sie. 

Ist Heimat also ein Konglomerat aus Raum, Erinnerungen, Sprache und Beziehungen zu anderen Menschen? 

Ja, und zu Tieren. Es ist eine Verbindung mit Sichtbarem und Unsichtbarem, eine Beziehung zur Welt. Heimat ist Weltraum. Sie ist nicht der Gegensatz zur Welt, sondern Heimat ist Welt. Ich würde dabei auch nicht die Differenz zwischen Welt und Umwelt gelten lassen oder gar zwischen Zentrum und Provinz. Sie sind überall in ihrer Heimat, wo Sie eben sind. Heimat kann überall sein. All jenen, die ihre Heimat verloren haben, wäre zu wünschen, dass sie im übertragenen Sinn woanders Wurzeln schlagen können. 

Könnte man auch die Welt, den Planeten Erde als Heimat ansehen? Würden Sie sich als Weltbürger bezeichnen?

Unbedingt! Und ich finde jeder Mensch sollte Weltbürger:in sein. Die Welt ist klein, insofern könnte die Heimat auch für jeden die Welt sein. Wichtig ist mir dabei, die Umwelt nicht von der Welt abzuspalten. Wenn wir an unsere Ressourcen und den Klimawandel denken, müssen wir die Welt retten, nicht nur die Umwelt. Im Übrigen schließt es sich für mich nicht gegenseitig aus, sich einerseits als Weltbürger:in zu verstehen und andererseits einen individuellen Zugang zur eige-nen Heimat zu haben - zu einem Ort, anderen Menschen, Tieren, Sprache und vielen Erinnerun-gen. 

Karl Jaspers formulierte einmal: „Heimat ist dort, wo ich verstehe und wo ich verstanden werde“. Es geht also um die eigene Identität. Inwieweit trägt Heimat zu dem bei, was wir geworden sind oder was wir werden? 

Das ist eine gute Frage, über die ich nachdenken muss (raucht an seiner Zigarre). Das Zitat Jaspers halte ich für eine mögliche Antwort, die aber nicht erschöpfend ist. Es gibt auf manche Fragen viele Antworten. Heimat evoziert ganz individuelle Imaginationen und Assoziatio-nen. Und ich denke, dass Heimweh ein zentraler Begriff ist, wenn wir über Heimat sprechen. Es braucht die Ferne, um sich der Heimat bewusst zu werden. Gleichzeitig ist es schwierig, dieses Gefühl in Worte zu fassen. Augustinus prägte den Satz: „Bevor ich darüber nachdachte, habe ich es noch gewusst.“ Es war seine Antwort auf die Frage, was Zeit ist. Die Antwort lässt sich genauso gut auf die Frage „Was ist Heimat?“ anwenden. Heimat hat eine ähnliche Konnotation wie Liebe oder Schmerz: dem Gefühl ist etwas Göttliches inhärent. Damit meine ich, ich müsste kapitulieren, wenn ich Heimat genau erklären sollte. Bei Augustinus heißt es dann: „Wenn du es verstanden hast, ist es nicht Gott“. Wenn wir Heimat also philosophisch nehmen, ist sie nicht so einfach zu er-klären. Es bleibt ein heiliger Rest an Unklarheit.

Kann Literatur Heimat geben?

Literatur ist ja kein Gegensatz zur individuellen Heimat eines jeden. Im Gegenteil:  Ich finde mich wieder in der Vergegenwärtigung von anderen Heimaten. Und das kann Literatur leisten. Es kann in aller Welt sein: Zum Beispiel beim Lesen von Mark Twain, wenn ich mit ihm am Mississippi herumspiele. 

Manche Leser finden auch in Ihrer Literatur Heimat.

Wenn das so ist, dann freut mich das. Aber ich möchte es mit einem musikali-schen Vorzeichen irgendwo zwischen Dur und Moll versehen. Mir ist es wichtig, dass in Büchern, in denen Heimat sichtbar wird, auch gleichzeitig die Heimatlosigkeit des Menschen im Besonderen und im Prinzip zum Vorschein kommt.